Diese Arbeit habe ich Ende 1998 in einem Seminar zu mittelalterlicher Literatur verfasst. Das Nibelungenlied ist eines der bekanntesten Werke höfischer Literatur und blickt auf eine lange Geschichte von verschiedenen Einflüssen und Veränderungen zurück.

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1 Einleitung

Vergleicht man das Nibelungenlied mit den anderen Dichtungen seiner Zeit, so ist die Abwesenheit einer klaren und konstanten Gut-Böse-Konstellation vielleicht eine der auffälligsten Eigenschaften dieses Epos. Sogar Wolframs von Eschenbach Willehalm, der deutliche Tendenzen aufweist, die heidnischen Gegner als vollwertige und tugendhafte Ritter darzustellen, kann letzten Endes nicht umhin, die Taufe als unerlässlich für die Vollendung eines Recken zum wahrlich tugendhaften Menschen zu beschreiben. Während im Rolandslied des Pfaffen Konrad hingegen die heidnischen Nicht-Christen durchgehend und eindeutig auf der falschen Seite stehen, fangen im Nibelungenlied die anfangs scheinbar noch klaren Verhältnisse bald an, auseinander zu fallen und hinterlassen eine Umgebung, in der die höfischen Tugenden - deren Einhaltung für alle Figuren des Werkes anfangs so essentiell erschien - immer zweifelhafter erscheinen müssen.

Die Spannung erwächst hier nicht aus einer religiösen, quasi axiomatisch festgelegten Schwarz/Weiß-Weltanschauung (wie im Rolandslied), in der anhand von wenigen einfachen Parametern richtig und falsch unterschieden werden können, sondern aus der Verstrickung mehrerer miteinander konkurrierender Werte, von denen jeder einzelne zwar ehrenhaft und lobenswert erscheint, deren Zusammenwirken aber grundlegende Unvereinbarkeiten offenbart. Selbst die im Willehalm angelegten Grauwerte zeigen nicht das Konfliktpotential des Nibelungenliedes, weil hier noch ein einfaches duales Weltbild zugrunde liegt.

Ich werde im Folgenden versuchen, aufzuweisen, wodurch das anfangs scheinbar so stabile Wertesystem des Wormser Hofes derart auseinanderfällt, wie es das Nibelungenlied beschreibt. Da in der Forschung immer wieder mit Recht darauf hingewiesen wird, dass der Dichter der uns vorliegenden Fassungen des Nibelungenliedes es nicht immer geschafft hat, eine in sich vollständig geschlossene Welt abzubilden1, wird es nötig sein, an Brüchen im Inhalt und der Erzählstruktur auf die Überlieferungen hinzuweisen, die dem mittelalterlichen Dichter als Grundlage dienten.

 

2 Freund und Feind

Ich habe die Analyse der Bündniskonfigurationen auf die Feinde und Verbündeten des Wormser Hofes (Kap. 2.1) konzentriert. Damit wähle ich bewusst einen Blickwinkel, der die Burgunden ins Zentrum stellt, weil diese als Hauptfiguren im Mittelpunkt der Erzählung stehen. Mir ist die Vereinfachung, die sich aus dieser Perspektive ergibt, durchaus bewusst; ich habe deshalb alle weiteren Spannungen, die sich dieser Kategorisierung entziehen, im Text zusätzlich berücksichtigt und in der Zusammenfassung (Kap. 2.2) unter "Andere Oppositionen" aufgeführt.

 

2.1 Situation der Burgunden

Da sich im Laufe der Erzählung die Zusammensetzung des Wormser Hofes verändert, beziehe ich mich im Folgenden mit dem Begriff "Burgunden" hauptsächlich auf Gunther und Hagen, welche die zentralen Positionen im Hofstaat einnehmen. So zähle ich Kriemhild nach dieser Definition nur bis zu ihrer Hochzeit mit Etzel zum Wormser Hof. Weiterhin ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass ich nicht der begrifflichen Vermischung von "Burgunden" und "Nibelungen" folge, die das Werk selbst vornimmt. Ich halte diese Gleichsetzung für problematisch, da die Nibelungen aus Fragmenten der Sage stammen, die vollständig außerhalb der "realistischen" höfischen Welt stehen, zu der alle anderen Figuren der Erzählung gehören. Ich bezeichne daher im Folgenden nur die Krieger aus dem Nibelungenland als "Nibelungen", nicht aber die Burgunden des zweiten Teils (nachdem der Hort auf sie "abgefärbt" hat).

 

2.1.1 Die “Befriedung“ Siegfrieds

Nach Siegfrieds Entschluss, um die sagenhaft schöne Kriemhild zu werben, verwundert die Haltung, mit der er in Worms zunächst auftritt. Ist er als Unbekannter am Hof der Burgunden vorerst als neutral einzustufen, so droht dieses Bild mit seinem forschen Auftreten rasch zu kippen. Seine Herausforderung macht ihn kurzzeitig beinahe zum offenen Feind der Burgunden. So verwundert es auch, dass er bei seiner Forderung auf Gunthers Besitz sein eigentliches Anliegen - nämlich Kriemhild - nie erwähnt.

Diese Haltung dürfte vor allem aus der Figur des Siegfried heraus nachvollziehbar werden, die den zeitgenössischen Hörern des Nibelungenliedes aus älteren nordischen Heldensagen gut bekannt war2. Siegfried repräsentiert hier einen älteren, heroischen Idealtypus von Ritter, dessen wichtigste Eigenschaften seine Kampfkraft und sein Mut sind. Im Gegensatz dazu verkörpern die Burgunden neuere, prototypisch höfische Figuren. Ihre Qualitäten liegen in vollendeten Umgangsformen und edlem Charakter. Von daher wird hier einsichtig, warum Siegfried anfangs noch so ungehobelt wirkt: er erfüllt seine Funktion als furchtloser Recke3 und gibt dem Wormser Hof dabei Gelegenheit, seine höfische Etikette in Perfektion zu demonstrieren. So wird an dieser Szene sehr schön deutlich, dass hier zwei unterschiedliche Konzepte von Rittertum aufeinanderprallen.

Mit Siegfrieds Einlenken wird der angebahnte Konflikt dann überraschend reibungslos aufgelöst. Diese Wendung ist einerseits mit der generellen Finalität der Handlung zu erklären, bietet aber außer der o.g. Demonstration vorbildlichen höfischen Verhaltens auch das Potential, spätere Konflikte (z.B. zwischen Hagen und Siegfried) vorauszudeuten. Als Ergebnis dieser Âventiure ist Siegfried vom potentiellen Gegner der Burgunden zum Neutralen avanciert.

 

2.1.2 Der Sachsenkrieg

Mit der Kriegserklärung von Lüdeger und Lüdegast ergreift Siegfried die Gelegenheit, aus dieser neutralen Position hervorzutreten, indem er Gunther seine Hilfe anbietet. In der Tat stellt sich später heraus, dass Siegfried den Sachsenkrieg fast im Alleingang für die Burgunden gewinnt. Die Tatsache, dass Gunther sich überreden lässt, nicht mit zu ziehen, deutet einerseits auf seine Charakterisierung als schwacher König4 hin, hebt aber auch Siegfried stark hervor: Dieser wird nicht nur seiner Rolle als Degen gerecht, sondern beginnt damit auch, Hagen von seiner Position als mächtigstem Vasallen zu verdrängen, was die Spannungen zwischen diesen beiden vorausdeutet. Das wichtigste Resultat dieser Schlacht ist für Siegfried damit, das Vertrauen der Burgunden gewonnen zu haben und als Verbündeter und Freund akzeptiert zu werden.

Betrachtet man den Ausgang der Schlacht für Lüdeger und Lüdegast, so sind sie als offene Feinde der Burgunden ins Feld gezogen und wurden militärisch geschlagen. Trotz ihrer Feindschaft werden sie nach ihrer Gefangennahme in Worms aber nicht eingekerkert, sondern fast wie Gäste behandelt. Ihre Kapitulation (und damit die Anerkennung der Kriegskunst ihrer Gegner) muss gemäß der höfischen Etikette honoriert werden - die Unterworfenen ins Verlies zu stecken oder gar hinzurichten entspräche der Blutrache der "heroic age", nicht aber höfischer Kultur. Der Wormser Hof hat hier einmal mehr die Gelegenheit, seine vollendeten Umgangsformen zu demonstrieren. Die Entlassung der Besiegten unter den Auflagen der Sieger beendet den Auftritt von Lüdeger und Lüdegast im Nibelungenlied. Der weitere Verlauf des Epos bestätigt die Einhaltung des "Nichtangriffspaktes" mit den ehemaligen Gegnern. Damit sind sie nicht mehr als Feinde, sondern als neutral einzustufen.

 

2.1.3 Die Brautwerbung um Brünhild

Mit dem Erscheinen von Brünhild im Nibelungenlied taucht ein neuer Unsicherheitsfaktor auf: Zwar ist sie zunächst an der Handlung unbeteiligt, aber bereits das Wissen der Burgunden um die Bedingungen, die sie an ihre Brautwerber stellt, macht sie vorerst eindeutig zum Feind. Natürlich kommt Gunther nicht als Gegner über das Meer, aber er weiß trotzdem, dass er sein eigenes Leben und das seiner Vasallen riskiert, indem er sich Brünhilds Bedingungen unterwirft. Die Situation ist Siegfrieds erstem Auftreten nicht unähnlich: Da es sich auch bei Brünhild um eine Repräsentantin älterer, heroischer Tradierungen handelt, verwundert die Kraftprobe bei der ersten Begegnung nicht. Gunthers höfischer Hintergrund wiederum gebietet es, die Spielregeln entweder zu akzeptieren oder sich gar nicht auf das Wagnis einzulassen.

Mit der Ankunft in Brünhilds Reich herrscht aufgrund dieser janusköpfigen Situation Nervosität bei den Burgunden: Zwar werden sie wie Gäste empfangen, aber trotzdem wissen sie, dass sie im Falle von Gunthers Versagen hingerichtet werden sollen. In dieser Bedrängnis erweist sich Siegfried einmal mehr als Retter in der Not: mit der magischen Kraft der Tarnkappe kann er Gunther den Sieg erschleichen. Obwohl niemand den Betrug bemerkt, bleibt die Situation zunächst angespannt. Nach außen sichtbar ist Brünhild nach ihren eigenen Regeln geschlagen worden und muss nun bedingungslos ihr Heiratsversprechen einlösen. Doch die Lage ändert sich vorerst wenig: Die Burgunden bleiben nervös, weil keiner weiß, ob Brünhild sich nicht doch noch entschließt, an ihrem Unterwerfer Rache zu üben, so wie es ihr Hintergrund als heroische Figur durchaus zuließe. Bis klar wird, dass sie zu ihrem Wort steht und mehr höfische Züge annimmt, bleibt sie eine zeitlang neutral, weil schwer einschätzbar.

Mit ihrem Einzug in Worms ist Brünhild dann aber eindeutig als Bestandteil des burgundischen Hofes zu verstehen. Unterstrichen wird dies besonders durch die herzliche Begrüßung durch Kriemhild, der sich Brünhild nicht verschließt. Von diesem Zeitpunkt an ist sie untrennbar mit den Burgunden verbunden.

Fasst man die drei ersten Konfrontationen des Werkes noch einmal zusammen, so fällt auf, dass sie jedes Mal auf andere Weise gelöst worden sind: Siegfrieds Provokation wird mit höfischer Gastfreundschaft aufgefangen, Lüdeger und Lüdegast werden nach heroischer Manier auf dem Schlachtfeld geschlagen, und Brünhilds unüberwindbarer Wettkampf kann nur durch Betrug gewonnen werden. Im weiteren Verlauf ist es dabei interessant zu sehen, wie die ersten beiden Konfliktlösungen von Dauer waren. Die Probleme, die den Untergang der Burgunden nach sich ziehen, fangen erst mit dem Betrug an Brünhild an. Hier wird deutlich, wie sowohl das archaische Wertesystem des Heroismus als auch das hochmittelalterliche Prinzip des höfischen Umgangs in der Lage sind, Konflikte dauerhaft zu lösen. Erst der Griff zu moralisch verwerflichen Vorgehensweisen birgt den Sprengstoff, der zur Katastrophe führt. In dieser Exposition kann man durchaus eine klare Stellungnahme des Dichters sehen, der die Gültigkeit der beiden Wertesysteme hervorhebt und mit unethischen Vorgehensweisen kontrastiert, um den Regierungsstil zeitgenössischer Herrscher zu kritisieren, die hinter dem schönen Schein der perfekten höfischen Etikette auch so manches realpolitische Manöver ausgeführt haben, das nicht ganz dem guten Umgang entsprach.

 

2.1.4 Exkurs: die Nibelungen

Als die Burgunden an Brünhilds Hof kalte Füße bekommen, ist es natürlich wieder einmal Siegfried, der sie Situation rettet: Und so kann er genau im benötigten Augenblick eine ganze Heerschar von Kriegern quasi aus dem Hut zaubern, indem er die von ihm unterworfenen Nibelungen in die Pflicht nimmt. Hier wird die Herkunft der Figur Siegfrieds aus Sagen und Mythen besonders deutlich: die Nibelungen (als einziges Sagen-haftes Element des Nibelungenliedes) entstammen einer völlig unhöfischen, weil nicht realistischen Umgebung. Die Position von Siegfried als Bindeglied zwischen ihnen und der restlichen höfischen Welt des Epos weist auf seinen Ursprung in älteren Erzählungen hin. Dabei ist es interessant, dass in dieser Passage das einzige Mal in der gesamten Erzählung ein Vasall auf seine Lehnstreue überprüft wird. Offenbar wird hier den Riesen und Zwergen der Sagenwelt weniger Vertrauen entgegengebracht als "realen" Personen. Ironischerweise erweist sich die Treue der Nibelungen als weitaus zuverlässiger als die höfische Welt. Mit ihrer Verpflichtung gegenüber Siegfried werden auch sie nun - wenn auch nur indirekt - zu Verbündeten der Burgunden. Bezeichnenderweise treten diese "ursprünglichen" Nibelungen später immer mehr in den Hintergrund, während ihre Bezeichnung mysteriöserweise auf den gesamten Wormser Hof übergeht, was auch verdeutlicht, wie die nibelungischen Kämpfer nach Siegfrieds Tod scheinbar in die burgundischen Truppen "assimiliert" werden, also mit ihnen verschmelzen.

 

2.1.5 Der Brautnachtbetrug

Mit Brünhilds Einzug scheint für Gunther das goldene Zeitalter anzufangen: Er hat sein Vorhaben, eine unwahrscheinlich mächtige Braut zu seiner Königin zu machen, umsetzen können. Der Wormser Hof akzeptiert Brünhild (vgl. die Begrüßung durch Kriemhild), und alles scheint in bester Ordnung. Doch schon in seiner Hochzeitsnacht wird Gunther unangenehm an sein Versagen, Brünhild selbst zu bezwingen, erinnert. Der ungebrochene Widerstand seiner Braut macht den König einmal mehr zum Versager und erneuert die Ablehnung Brünhilds. Außerdem fördert es ihr Misstrauen, wie der Mann, der sie angeblich im Zweikampf geschlagen hat, plötzlich an ihrer Kraft scheitert.

An dieser Stelle scheint es fast schon notorisch, dass natürlich wieder einmal Siegfried derjenige ist, der für Gunther den Karren aus dem Dreck zieht. Spätestens von da an kann Gunther nicht mehr als vollwertiger König gesehen werden, selbst wenn er im zweiten Teil seine ritterlichen Qualitäten doch noch unter Beweis stellen darf. Mittlerweile steht er damit so tief in Siegfrieds Schuld, dass nur die Geheimhaltung der unlauteren Brautwerbung Gunthers Billigung von Siegfrieds späterer Ermordung noch rechtfertigen kann: hätte der Hofstaat um die weitreichenden Verdienste des Niederländers gewusst, hätten sie wahrscheinlich empfindlicher auf die mehr als dubiosen Umstände seines Todes reagiert.

Generell kann an dieser Stelle vermerkt werden, dass Gunther seinem Freund hier zutiefst verbunden ist für seine Dienste: Siegfried hat dessen Reich gegen seine Feinde verteidigt und für ihn eine unerreichbare Braut errungen. Er wird damit zur heimlichen Nummer Eins am Hofe und hat Hagen schon fast aus Gunthers Aufmerksamkeit verdrängt.

 

2.1.6 Siegfrieds Verstoßung

Nach dem Königinnenstreit vor dem Münster steht der Hof in Worms vor einer Situation, die mit keinem Mittel der höfischen Diplomatie mehr gelöst oder auch nur freundschaftlich beigelegt werden kann: Die Königin und die Schwester des Königs haben sich in dem Bestreben, einander zu übertrumpfen, unversöhnlich beleidigt. Zum ersten Mal steht Gunther hier vor einem Streit im eigenen Lager. Die bisherigen Bedrohungen von außen waren stets mit Geschlossenheit von innen bezwungen worden, nun aber stehen zwei "Verbündete" unversöhnlich gegenüber. Hier ist die höfische Etikette machtlos, denn leider sind es nicht nur die empfindlichen Egos der beiden Königinnen, die hier verletzt wurden - ein solcher Streit hätte sich beilegen lassen: In der Hitze des Gefechts wurden Teile des Brautnachtbetrugs und der Standeslüge aufdeckt. Wenn hierbei auch Vorwürfe fallen, die nicht ganz stimmen5, kommt doch genug schmutzige Wäsche ans Licht, dass sich nicht alles einfach leugnen lässt.

Da hier offensichtlich keine Lösung mit höfischen Mitteln möglich ist, drängt sich mit Hagen wieder das heroische Wertesystem der Rache in den Vordergrund: Anstatt den Konflikt zu lösen, wird er verdrängt und erstickt. Dabei ist Siegfrieds zweifelhafter Tod nicht nur eine stumme Warnung an alle, die die königliche Autorität in Frage stellen, sondern auch eine Panikreaktion6: Gunther ist nach dem Eklat vor dem Münster gezwungen, irgend etwas zu unternehmen. Er kann die Angelegenheit unmöglich auf sich beruhen lassen, auch wenn er zunächst genau das tun will (was wieder seine Entscheidungsschwäche demonstriert). Hagen erkennt, dass dieser Streit die königliche Macht massiv zu unterhöhlen droht und drängt die drei Brüder so lange, bis er grünes Licht bekommt, die Ermordung auf seine Verantwortung durchzuführen. Damit macht er sich nicht nur klar zu Siegfrieds Gegner, sondern auch zu Gunthers Freund: Hagen ist als Vasall dazu verpflichtet, Schaden von seinem Lehnsherrn abzuwenden, und genau das tut er hier. Dabei kann er sich als einzelner schuldig machen und sogar noch öffentlich dazu stehen7, ohne aber befürchten zu müssen, als Individuum dafür zur Verantwortung gezogen zu werden: Als getreuer Lehnsmann steht er unter dem uneingeschränkten Schutz seines Königs und bleibt damit unantastbar - trotz offenkundiger Schuld.

 

2.1.7 Nach Siegfrieds Tod

Bereits bei Siegfrieds Beisetzung steht für Kriemhild Hagen als Mörder ihres Mannes fest. Diese Feindschaft ist es, die den Untergang der Burgunden besiegelt. Doch auch zu ihren Brüdern nimmt Kriemhild Distanz ein. Daran kann auch die oberflächliche Versöhnung mit Gunther nicht viel ändern: innerhalb des Wormser Hofes zieht Kriemhild sich von der Öffentlichkeit zurück und verliert damit ihre enge Bindung an die burgundische Gesellschaft. Auch Sigmund (exemplarisch für Siegfrieds Familie und die Niederlande) geht vom Status eines Verbündeten auf eine neutrale Stellung zurück. Mit seiner Abreise endet auch sein Auftritt im Nibelungenlied.

Kriemhilds mehr oder weniger freiwilliges Zurückbleiben8 am Hof in Worms gibt Gelegenheit zu kleinen Kriseleien: Ihre Versuche, mit großzügigen Schenkungen Verbündete zu gewinnen, die ihr Einfluss verschaffen könnten, erregen die Nervosität Hagens. Obwohl es hier zu keinen offenen Konfrontationen kommt, ist doch das Tauziehen hinter den Kulissen deutlich zu spüren: Mit der Versenkung des Horts im Rhein ist Kriemhild endgültig entmachtet und zieht sich verbittert zurück.

 

2.1.8 Etzels Werbung um Kriemhild

Obwohl Kriemhild anfangs wenig begeistert ist von der Aussicht, einen Heiden zu heiraten, erkennt sie doch bald, dass sich hier eine (und wahrscheinlich die letzte) Gelegenheit bietet, wieder zu Macht und Einfluss zu gelangen. Zum ersten Mal seit Jahren kommen ihr wieder Rachegedanken, die plötzlich konkreter - weil durchführbarer - erscheinen. Ihre innere Einstellung zum Wormser Hof entfernt sich bereits hier von ihren Brüdern: Wohlweislich vorausschauend nutzt sie die Gelegenheit, Rüdiger von Bechelaeren für sich zu verpflichten. Dabei wird am Wortlaut des Eides deutlich, für welche Eventualitäten sie Rüdiger einplant: Er schwört ihr, an jedem, der sie verletzt, Rache zu üben. Kriemhild ist sich darüber im Klaren, dass sie eines Tages darauf zurückkommen könnte.

Während Kriemhilds Brüder sich für sie freuen, erkennt Hagen das Potential, das Kriemhild als Herrin über Etzels Reiche zu Verfügung stände und rät schärfstens davon ab, die Heirat zuzulassen. Bezeichnenderweise liegt hier mit einem der seltenen Fälle, in denen sich Gunther gegen Hagen durchsetzt, auch gleichzeitig einer seiner größten Fehler (in seiner Funktion als Herrscher) vor. Damit wird die Feindschaft zwischen Hagen und Kriemhild erneut bestärkt, denn beide wissen nun, dass sie sich als Feinde begegnen werden, wenn sie sich das nächste Mal treffen. Für Kriemhild bedeutet das Einwilligen in die Ehe mit Etzel ihre endgültige Abwendung von den Burgunden - und obwohl es noch einige Jahre dauert, bis sie den großen Untergang herbeiführt, ist sie bereits beim Verlassen von Worms ein Feind von Hagen und damit auch ein Feind der Burgunden.

 

2.1.9 Die Reise der Burgunden zu Etzel

Bereits mit Eintreffen der Einladung Kriemhilds, an Etzels Hof zu kommen, erkennt Hagen die damit verbundene Gefahr und versucht vehement, die Könige von ihren Reiseplänen abzubringen. Da Gunther aber auch diesmal Kriemhilds Zorn unterschätzt, begeht er einen weiteren tödlichen Fehler, indem er sich gegen Hagen durchsetzt.

 

2.1.9.1 Der Konflikt mit Else

Hagens Kampf mit dem Fährmann ist exemplarisch für die neu gemachte Feindschaft mit Else und Gelpfrat. Den bayrischen Fürsten kann es nicht recht sein, dass in einer konfliktgeladenen Gegend fremde Heere unkontrolliert ihr Gebiet durchqueren. Für sie ist es daher klug, die Grenzen für unbekannte Truppen zu verschließen. Für Hagen ist diese Beschränkung jedoch inakzeptabel - allerdings nicht aus Egoismus, sondern weil er verpflichtet ist, seinen König sicher zum Hof der Hunnen zu bringen. Da er weiß, dass er den Fährmann mit ehrlichen Mitteln nicht zur Kooperation bewegen kann, greift er zu einer List und gibt sich als ein Freund aus. Als der Schwindel auffliegt, ist das Duell vorprogrammiert: Der Fährmann kann nun erst recht nicht einwilligen, den Betrüger und seine Männer überzusetzen. Als Hagen insistiert, verliert der Fährmann die Geduld und wird handgreiflich - nur hat er sich mit Hagen natürlich den Falschen ausgesucht: Er kann nicht gewinnen. Somit haben die Burgunden mit den Bayern einen neuen Feind, und es kommt sogar zum Kampf mit den Fürsten persönlich, die versuchen, ihre Autorität als Herrscher zu wahren. Als Dankwart dabei Gelpfrat erschlägt, können die Burgunden zwar unbehelligt weiterziehen, sind aber um einen Feind reicher.

Außerdem bemerkenswert sind an dieser Stelle auch die "merwîp", die Hagen am Ufer aufstöbert. Zwar erscheinen sie als neutrale Figuren, die weder Freund noch Feind sind, aber dennoch darf man sich fragen, ob sie mit ihrer Prophezeiung nicht auch Einfluss nehmen auf das Geschehen und Hagen ins Unglück schicken wie die drei Hexen in Shakespeares "Macbeth". Immerhin kann sich Hagen von der Richtigkeit eines Teils ihrer Vorhersage überzeugen (indem er den Kaplan in den Fluss wirft und sieht, wie der Nichtschwimmer wundersam das Ufer lebend erreicht), aber er folgt natürlich auch dem prophezeiten Weg und treibt damit dessen Erfüllung voran.

 

2.1.9.2 Giselhers Verlobung

Beim Zwischenstop an Rüdigers Hof bietet sich die Gelegenheit, die burgundische Freundschaft mit ihrem Gastgeber aufzufrischen. Da sich beide Gruppen freundschaftlich verbunden sind, genießen alle die Festlichkeiten. Als Giselher - von der Schönheit der Mädchen in Bechelaeren angetan - laut darüber nachdenkt, zu heiraten, erkennt Hagen sofort das Potential einer Verbindung mit Rüdigers Familie, um die freundschaftliche Bindung mit einer familiären zu untermauern. Besonders nach der Prophezeiung der Meerfrauen weiß er, dass die Burgunden jeden Verbündeten brauchen, den sie nur bekommen können - und da Rüdiger auch Kriemhild nahe steht, nutzt Hagen die Gelegenheit, ihn stärker an die Burgunden zu binden, indem er die Verlobung Giselhers mit Rüdigers eigener Tochter vorschlägt. Als Betrachter kann man förmlich das Tauziehen um Rüdigers Loyalität sehen, das Kriemhild und Hagen sich hier liefern. In der Tat darf gemutmaßt werden, dass Rüdiger ohne seinen Eid für Kriemhild in der Saalschlacht auf der Seite der Burgunden gestanden hätte9.

 

2.1.10 Warnungen vor Kriemhild

Nicht nur Hagen spürt die Gefahr, die von Kriemhild ausgeht. Auf ihrer Reise an Etzels Hof werden die Burgunden zweifach gewarnt: von Markgraf Eckewart sowie Dietrich von Bern. Beide stehen anfangs zwischen den verfeindeten Parteien und verfolgen die sich anbahnende Konfrontation mit Sorge. Dies ist besonders bei Eckewart zu beobachten, der zwar mit den Burgunden freundschaftlich verbunden, aber Kriemhild und Etzel durch Lehnsrecht verpflichtet ist. Damit weiß er, dass er im Falle eines offenen Konfliktes damit rechnen muss, gegen seine burgundischen Freunde kämpfen zu müssen (Insofern gleicht seine Situation der Lage Rüdigers). Und obwohl er damit seiner Herrin keinen guten Dienst erweist, entscheidet er sich doch, Gunther vor Kriemhilds Zorn zu warnen. Da er damit noch keine direkte Anweisung missachtet, ist dies das Beste, was er noch für seine Freunde tun kann - obwohl auch deutlich wird, dass er hier seine triuwe gegenüber Kriemhild empfindlich verletzt. Diese reagiert nämlich in der Tat äußerst gereizt, als sie von Dietrichs Warnung an die Burgunden erfährt.

Allerdings hat Dietrich im Gegensatz zu Eckewart den Vorteil, keiner der streitenden Parteien lehnsrechtlich verpflichtet zu sein. Als Exilherrscher ist er am Hof Etzels nur zu Gast und macht diese Unabhängigkeit gegenüber Kriemhild auch geltend. Nichtsdestotrotz ist er aber den Hunnen freundschaftlich verbunden und den Burgunden durch Hochachtung ihrer Personen. Er ist somit bis zum Schluss in der neutralsten Position und schärft seinen Männern auch ein, sich nicht auf Streit mit den Burgunden einzulassen, weil er unparteiisch bleiben will - außerdem kann er sich natürlich von den wenigen ihm verbliebenen Gefolgsleuten keine Verluste erlauben.

 

2.1.11 An Etzels Hof

Mit der Ankunft an Etzels Hof nimmt das Ende seinen Anfang. Kriemhild und Hagen sind sich voll und ganz darüber im Klaren, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis offene Streitigkeiten ausbrechen. Trotzdem dauert es relativ lange, bis Gunther und besonders Etzel dies erfassen, weil zunächst dem höfischen Kodex gefolgt werden muss und Kriemhild alle Hände voll zu tun hat, bis ihre Provokationen endlich den angestrebten Kampf auslösen.

 

2.1.11.1 Verhärtung der Fronten

Schon bei der Ankunft geben sich Kriemhild und Hagen keine Mühe, ihre Feindschaft zu verbergen. Kriemhilds selektive Begrüßung, die Hagen und Gunther (als Hauptschuldige an Siegfrieds Tod) bewusst ausschließt, ist eine deutliche Ohrfeige für die Ankömmlinge und für Außenstehende eine grobe Verletzung des guten Umgangs seitens Kriemhild. Mit ihrer betont herzlichen Begrüßung von Giselher, den die wenigste Mittäterschaft trifft, macht sie ihre Verurteilung der anderen überdeutlich.

Hagen andererseits verweigert Kriemhild nicht nur den ihr (als Königin) zustehenden Gruß, indem er nicht vor ihr aufsteht; er gibt ihre Provokation auch offen zurück, indem er im Sitzen die Haltung eines Richters einnimmt. Und als ob das noch nicht genug wäre, ist das Schwert, das er sich hierzu auf die Knie legt, die Waffe Siegfrieds aus dem Nibelungenhort - erinnert also nicht nur an dessen Tod, sondern auch an den Hort, den Hagen unrechtmäßig beschlagnahmt und versenkt hat. Eine perfektere Beleidigung und Provokation ist hier nur schwer vorstellbar - indes verfehlt sie ihre Wirkung auch nicht.

 

2.1.11.2 Volkers Provokation

Nach dem gemeinsamen Kirchgang (von dem Dietrich wohlweislich seine Leute ausgeschlossen hat) bahnt sich in den Turnierspielen ein weiteres Mal eine offene Auseinandersetzung an. Als der Spielmann Volker aus reinem Unmut im (sportlichen) Zweikampf einen hunnischen Ritter absichtlich tötet, spitzt sich die Lage bedrohlich zu und droht außer Kontrolle zu geraten. Einzig Etzel, der hier in vollendeter Form höfischen Umgangs dargestellt wird, kann die Situation retten, indem er - "seine Pflichten als Gastgeber bis zur demütigenden Selbstverleugnung ernst nehmend"10 - schlichtend eingreift. Während das Klima immer feindseliger wird und Etzel erst allmählich die sich anbahnende Gefahr begreift, muss er doch seine vorerst neutrale Position wahren. In der Tat ist er die ganze Zeit sehr darum bemüht, eine Freundschaft zu seinen angeheirateten Verwandten aufzubauen: Am deutlichsten wird dies, als er trotz aller vorangegangenen Misstöne seinen Sohn Ortlieb in den Festsaal mitnimmt und seine Absicht verkündet, diesen nach Worms mit zu schicken und dort erziehen zu lassen. Dieser Vertrauensbeweis unterstreicht mit Nachdruck Etzels Bemühungen um freundschaftliche Beziehungen zu den Burgunden. Trotzdem kann es aber nicht dazu kommen, weil die Feindschaft zwischen Hagen und Kriemhild unversöhnlich feststeht. Letzten Endes ist es diese Feindschaft auf der einen Seite und die Lehnstreue aller anderen Beteiligten auf der anderen Seite, die die tödliche Mischung ausmachen, welche den Untergang besiegelt.

 

2.1.11.3 Bloedelins Parteinahme

Während Etzel - so ganz entgegen allem, was man über den historischen Attila weiß - immer wieder als perfekter Diplomat und Gastgeber glänzt, wird sein Bruder Bloedelin eher in der Art der nicht besonders ansprechend dargestellten Hunnenkrieger porträtiert: So teilt er vor allem deren betonte Rückgratlosigkeit und Unkultiviertheit, darüber hinaus lässt er aber als Heide jeglichen Sinn für Ehre und christliche Nächstenliebe vermissen, indem er sich von Kriemhild mit Versprechungen von Geld und Macht bestechen lässt, die burgundischen Knappen zu ermorden. Damit lassen sich erstmals hunnische Truppen auf den bewaffneten Konflikt mit den Burgunden ein - die Handlung steuert damit unumkehrbar auf die große Katastrophe zu. Selbstverständlich muss Bloedelin nach der Moral des Werkes für diesen äußerst unritterlichen Verrat mit seinem Leben bezahlen - erst recht im Zweikampf gegen Hagens Bruder Dankwart, der dann mit der Kunde von dem Gemetzel den Konflikt in den Saal trägt.

 

2.1.12 Die Saalschlacht

"Endlich" hat Kriemhild es geschafft, Hunnen und Burgunden in einen nicht mehr beilegbaren Konflikt zu verwickeln. Von nun an tobt eine nicht enden wollende Materialschlacht, in der immer mehr Kämpfer auf beiden Seiten ihr Leben verlieren.

 

2.1.12.1 Ortliebs Tod

Mit der Ankunft des blutüberströmten Dankwart mag man vielleicht noch an den Versuch einer diplomatischen Lösung durch Etzel glauben, aber Hagen kommt dem zuvor, indem er völlig eigenmächtig (d.h. ohne Gunthers Erlaubnis) den jungen Ortlieb erschlägt und Etzel unversöhnlich gegen die Burgunden aufbringt. Einerseits ist der Mord an Ortlieb (der als Symbol für Etzels Freundschaft zu den Burgunden steht) eine offene Kriegserklärung, andererseits demonstriert diese Handlung abermals Gunthers Unfähigkeit, seinen mächtigsten Vasallen im Zaum zu halten - besonders da Ortlieb (als Kriemhilds Sohn) auch Gunthers Blutsverwandter (sein Neffe) ist! Aus dem Werk heraus kann diese Stelle vor allem mit Hagens Ungeduld erklärt werden: er weiß um das unvermeidbare Ende ist das Versteckspielen leid - er will den Streit endlich austragen. Da hier aber eine besonders eklatante Überschreitung nicht nur seiner Kompetenzen, sondern auch der ritterlichen Tugenden vorliegt, lohnt es sich, einige der Quellen des Nibelungenliedes auf diese Stelle zu untersuchen:

So wirft die Thidrekssaga ein etwas anderes Licht auf die Motivation Hagens an dieser Stelle: Dort instrumentalisiert Kriemhild ihren Sohn ganz bewusst (und nimmt damit seinen Tod billigend in Kauf), um die Konfrontation weiter zu forcieren. Sie schickt Ortlieb zu Hagen mit der expliziten Anweisung, diesen ins Gesicht zu schlagen11. Hagen erkennt sofort, dass der Junge nicht aus eigenem Antrieb gehandelt hat, geht aber trotzdem auf Kriemhilds Provokation ein, indem er ihr den abgeschlagenen Kopf ihres Sohnes vor die Brust wirft12. Er gibt damit zu erkennen, dass er ihre Handlungsweise durchschaut hat. Wenn auch diese Textstellen natürlich keine Entschuldigung für Hagens Verhalten im Nibelungenlied sind, so machen sie doch deutlich, dass der Verfasser des Liedes offenbar die Absicht verfolgte, Kriemhild weniger blutrünstig und ruchlos darzustellen als die Texte, die er z.T. adaptierte. In jeden Falle ist aber der erzähltechnische Zweck dieser Szene hauptsächlich der, den fast unerschütterlich diplomatischen Etzel zum unversöhnlichen Feind der Burgunden zu machen.

 

2.1.12.2 Rüdigers Konflikt

Im Verlauf der Saalschlacht zieht Kriemhild alle ihr zu Verfügung stehenden Register, um Hagen ausgeliefert zu bekommen: Zuerst hetzt sie Etzels Krieger auf die Burgunden. Diese werden alle getötet und (fast schon provozierend) vor die Saaltür geworfen. Dann setzt sie ein Kopfgeld auf Hagen aus. Ihring von Dänemark stirbt bei dem Versuch, Hagen zu töten und die Belohnung einzustreichen. Als nächstes lässt sie den Saal in Brand stecken. Als sie damit immer noch keinen Erfolg hat, muss sie ihren letzten Trumpf ausspielen: Rüdiger von Bechelaeren13.

Dieser spürt jetzt die volle Tragweite seines Eides an Kriemhild, ihren Schmerz zu rächen. Auch er muss nun erkennen, dass er von ihr hier nur instrumentalisiert wird: Wie Kriemhild dies tut, wird deutlich, wenn wir uns verschiedene Aspekte von triuwe vor Augen führen: So unterscheidet F.C. Gentry z.B. zwischen lehnsrechtlichen (rationalen) und freundschaftlichen (emotionalen) Bindungen14. Als Rüdiger in der 20. Âventiure Kriemhild seine freundschaftliche Verbundenheit versichert, nimmt diese das zum Anlass, eben jene Verbundenheit in einem Eid verbindlich festzulegen. Dabei wechselt sie bewusst die Ebene, was eigentlich eine nicht zulässige Operation darstellt, denn sie nötigt Rüdiger eine Loyalität ab, die er ihr in dieser Form eindeutig nicht angeboten hat. Darüber hinaus verdreht sie ihm die Worte im Mund: Wo Rüdiger von Helfen spricht, redet sie von Rache. Kriemhild bedient sich hier ganz gezielt der Unschärfe des triuwe-Begriffes, um einen "Alliierten" an sich zu binden. In heutigen Dimensionen kann man sich diese Situation in etwa wie folgt vorstellen: A versichert B, dass dieser sich bei Problemen immer an A wenden kann (emotionale Ebene). Daraufhin verlangt B von A, dieses Versprechen in Form eines schriftlichen Vertrages festzuhalten (rationale Ebene). Hier wird deutlich, dass Kriemhild die Situation ausnutzt, um Rüdiger durch bewusstes "Missverstehen" seiner Freundschaftsbeteuerungen ihren Eid abzunötigen. Und in der Tat ergibt sich später eine Situation, in der sie ihn auf diesen "Vertrag" festnageln kann.

Für Rüdiger bedeutet dies nun einen unauflöslichen Konflikt zwischen seiner Verpflichtung gegenüber Kriemhild und seiner freundschaftlichen und verwandtschaftlichen (durch die Verlobung seiner Tochter mit Giselher) Bindung an die Burgunden. Aber so schwer ihm auch die Entscheidung fällt, so hat er doch von Anfang an keinerlei Wahl und muss dem Racheschwur folgen. Unter allen Aspekten der triuwe wiegt die lehnsrechtliche Verpflichtung unmissverständlich am schwersten15. Als auch die Burgunden die Situation erkennen, einigt man sich darauf, dass wenigstens Rüdiger und Giselher, die durch ihre familiäre Bindung einander verpflichtet sind, sich voneinander fern halten sollen. Das ist der letzte Freundschaftsdienst, den sich die Kämpfer hier noch erweisen können. So ist es dann Gernot, der dazu bestimmt ist, Rüdiger zu fällen und seinerseits durch ihn zu sterben - soviel ist der Dichter seiner glänzendsten Vorbildfigur16 schuldig, ihn nicht in einer Masse einfacher Soldaten sterben zu lassen, sondern von der Hand eines Königs.

 

2.1.12.3 Dietrich und seine Leute

Der Berner, der sich bisher erfolgreich seine neutrale Position bewahrt hat, gerät immer mehr unter Druck, Partei zu ergreifen. Da er jedoch ganz eigene Probleme hat, hält er sich mit Recht zurück. Als jedoch keine Kunde von Rüdiger aus dem Saal dringt, beschließt er - aus eigener Motivation - seine Ritter unter Waffenmeister Hildebrands Führung in den umkämpften Bereich zu schicken. Dabei ist es wichtig, hervorzuheben, dass er sich nicht von Kriemhild dazu überreden lässt; es ist ihm ein persönliches Anliegen, sich nach Rüdiger (den er sehr hoch achtet) zu erkundigen. Sein Wunsch ist lediglich, den unseligen Konflikt beizulegen. Er versieht daher seine Leute mit absolut eindeutigen Anweisungen, sich keinesfalls in den Kampf hineinziehen zu lassen, sondern ausschließlich nach dem Recken aus Bechelaeren zu sehen. Da aber die Stimmung im Saal mittlerweile auf den Nullpunkt gesunken ist, geben sich die Burgunden wenig kooperativ in der Übergabe von Rüdigers Leichnam, was wiederum die Berner reizt. So lassen sie sich entgegen ihres ausdrücklichen Befehls in den Kampf verwickeln und finden dabei fast alle den Tod. Auf der Seite der geschwächten Burgunden fallen Volker, Dankwart und Giselher, so dass an namhaften Kämpfern nur noch Hagen und Gunther am Leben bleiben.

Der alte Hildebrand entkommt aus dem Saal und muss Dietrich nicht nur die Nachricht von Rüdigers Tod überbringen, sondern ihm auch den eigenen Ungehorsam beichten. Dementsprechend gerät Dietrich außer sich vor Wut: Er ist nicht nur gegen seinen Willen in den Konflikt hineingezogen worden, er hat auch alle seine ihm noch verbliebenen Lehnsmänner verloren. Damit ist seine Exilkrone nun endgültig wertlos geworden, denn ohne Gefolgsmänner kann er kaum noch König genannt werden. So ist auch die Motivation, bewaffnet in den Saal zu ziehen, seine ureigenste: "Mit der Rache Kriemhilds [...] hat er nichts zu tun"17. Dies wird auch daran deutlich, dass er sich nicht blindlings in den Kampf stürzt, sondern die Burgunden zunächst zur Rede stellt. Er wirft ihnen das Leid vor, dass sie ihm verursacht haben, bietet aber gleichzeitig eine Beilegung des Konfliktes an, verspricht ihnen sogar sicheres Geleit nach Worms. Als diese Option natürlich abgelehnt wird, kommt es zum letzten Kampf. Allerdings hat Dietrich es weder nötig noch darauf abgesehen, die beiden geschwächten Kämpfer zu töten. Er kann sie problemlos überwinden und lebendig gefangen nehmen.

Obwohl er sie dann an Kriemhild übergibt, hat er sich doch nicht vollständig zu ihrem Diener gemacht. Sein Anliegen, den Kampf zu beenden, hat er erreicht, aber die Auslieferung Hagens und Gunthers an die vâlandinne dient hauptsächlich der Finalität des Werkes18. Abgesehen davon kann hier auch auf mangelnde Alternativen verwiesen werden: Was sonst hätte Dietrich innerhalb der Kausalität des Werkes tun können? Seinen angebotenen Geleitschutz nach Worms hinter Kriemhilds Rücken mittels Flucht durchzuführen, wäre nicht nur in höchstem Maße untriuwe, sondern völlig ohne Gefolgsleute auch undurchführbar gewesen. Die Übergabe der Gefangenen war die einzig logische Konsequenz, auch wenn Dietrich wusste, dass Kriemhild ihr Versprechen, die beiden zu schonen, brechen würde. Somit hat er zwar am Ende doch noch eine Oppositionshaltung zu den Burgunden eingenommen, kann aber trotzdem nicht pauschal als deren Feind eingestuft werden.

 

2.1.13 Was übrig bleibt

Mit der Übergabe der Gefangenen kommt, was kommen muss: Nachdem Kriemhilds Versuch, Hagen in Demut zu unterwerfen, selbstverständlich erfolglos bleiben, lässt sie Gunther töten und enthauptet Hagen eigenhändig mit Siegfrieds Schwert. In gröbster Verletzung aller höfischen Werte schlägt hier wieder das heroische Prinzip der Blutrache durch. Angesichts dieser brutalen Vorgehensweise verwundert es auch nicht völlig, dass Hildebrand - zwar im Affekt, aber doch vorsätzlich und wohlbegründet - die Unglaublichkeit begeht, die Königin zu töten und in Stücke zu hacken. Hier ist es natürlich auch wieder der Stoffzwang, der dem Dichter die Hände bindet, aber andererseits kann Kriemhild nach höfischem Verständnis nicht ungestraft mit ihrer Bluttat davonkommen - irgend etwas muss sie in die Schranken weisen. So ist der alte Waffenmeister dafür prädestiniert, weil er schon zuvor in der Konfrontation mit den Burgunden mangelnde Zurückhaltung bewiesen hat; aber darüber hinaus ist er unter den wenigen verbleibenden Figuren am Ende des Liedes auch der einzige, dem - aus der Sicht des Dichters und seines Publikums - eine solche Tat angelastet werden kann (Man stelle sich Etzel oder Dietrich {beide Könige!} in dieser Rolle vor). Und so haben sich am Ende alle diejenigen, die in die Fehde verwickelt waren, gegenseitig ausgelöscht. Etzel, Dietrich und Hildebrand hatten keinen eigenen Anteil an dem Streit; sie wurden lediglich mit hinein gezogen. Für sie endet der Zwist mit dem Scherbenhaufen, vor dem ihnen am Schluss nichts bleibt als die Trauer um "mâge únde man".

 

2.2 Zusammenfassung

Âventiure

Verbündete der Burgunden

Neutrale oder Zweifelsfälle

Feinde der Burgunden

Inhalt

Andere Oppositionen

3


DrawObj

Siegfried


Siegfried will zwar um Kriemhild werben, kommt aber zunächst als Herausforderer, bevor er sich einladen lässt.

(Hagen vs. Siegfried)

4

SiegfriedDrawObj


DrawObj

Liudeger & Liudegast

Siegfried hilft das Burgundenreich gegen die Sachsen und Dänen verteidigen. Er bezwingt dabei eigenhändig beide gegnerischen Könige.

DrawObj

5


Liudeger & Liudegast


Die Feinde haben sich ergeben, werden aber trotzdem mit Würde wie Gäste behandelt.


6



DrawObj

Brünhild

Durch die Bedingungen ihrer Brautwerbung ist grundsätzlich jeder, der um Brünhild wirbt, zunächst als ihr Feind anzusehen.

(Brünhild vs. Siegfried)

7


DrawObj

Brünhild


Zwar wird Brünhild im Zweikampf geschlagen, aber die Situation bleibt vorerst brenzlig.


DrawObj

8

NibelungenDrawObj



Siegfried fährt schnell zu den Nibelungen, um sich von ihnen Verstärkung nach Island mitnehmen zu können.


10

BrünhildDrawObj



Brünhild wird als Königin der Burgunden in Worms empfangen. Ihr Unverständnis für Siegfrieds Rolle macht sie misstrauisch.

(Brünhild vs. Gunther)

12


DrawObj



Brünhild versucht, Siegfrieds höfischen Status zu ergründen und veranlasst deshalb Gunther, ihn und Kriemhild einzuladen.

(Brünhild vs. Siegfried)

14



DrawObj


In der Auseinandersetzung beider Königinnen, wessen Mann der höhere Rang zukomme, wird der Hochzeitsnachtbetrug öffentlich.

Kriemhild vs. Brünhild

15



Siegfried

DrawObj

Ohne sein Wissen wird Siegfried von den Burgunden verstoßen: Sein Tod ist (vor allem von Hagen) beschlossene Sache.

Hagen vs. SiegfriedDrawObj

16

DrawObj


Siegfried wird von Hagen (im Beisein Gunthers) ermordet.


17


Sigmund, KriemhildDrawObj


Hagen legt den toten Siegfried vor Kriemhilds Kammertür und gibt sich ihr durchaus als Mörder ihres Mannes zu erkennen.

Kriemhild vs. HagenDrawObj

18




Kriemhild bleibt zwar bei ihren Verwandten in Worms, aber ihr Verhältnis zu ihnen erholt sich nie wieder („Aussöhnung“ ohne Hagen).


19




Kriemhild versucht, mit freizügigen Schenkungen aus dem Nibelungenhort Verbündete zu gewinnen, bis Hagen sie "enteignet".


- Ende des ersten Teils -


Âventiure

Verbündete der Burgunden

Neutrale oder Zweifelsfälle

Feinde der Burgunden

Inhalt

Andere Oppositionen

20


Kriemhild, RüdigerDrawObj


DrawObj

Kriemhild kann Rüdiger von Bechelaeren für sich verpflichten. Entgegen schärfsten Warnungen Hagens wird Kriemhild die Heirat mir Etzel gestattet, ja sogar empfohlen.

DrawObjKriemhild vs. Hagen

21


EtzelDrawObj

KriemhildDrawObj

Die Aussicht auf Unabhängigkeit von ihren Brüdern lässt Kriemhilds Rachegedanken zum ersten Mal durchführbar erscheinen.


24


(Wärbel & Swemmel)


Hagen rät vehement von einer Reise an Etzels Hof ab, da er Kriemhild richtig einschätzt.


25


(Meerfrauen)

Fährmann

Hagen erschlägt den unwilligen Fährmann.


26


Eckewart

Else & Gelpfrat

Dankwart erschlägt einen der Lehnsherren des Fährmannes. Eckewart, obwohl ein Gefolgsmann Kriemhilds, warnt die Burgunden.


27


RüdigerDrawObj


Die Verlobung von Rüdigers Tochter mit Giselher bindet diesen an die Burgunden, hebt aber nicht seinen Treueeid zu Kriemhild auf.


28


DrawObjDietrich von Bern


Dietrich (von Verona), der als Exilherrscher an keinen Lehnseid gebunden ist, warnt die Burgunden ebenfalls vor Kriemhilds Zorn.

Kriemhild vs. HagenDrawObj

29



KriemhildDrawObj

Nach einer provozierenden Begrüßung versucht Kriemhild ohne Erfolg, einen Trupp Hunnensoldaten auf die Burgunden zu hetzen.

Volker vs. Kriemhild

31


EtzelDrawObj


Etzel greift schlichtend ein, obwohl Volker provozierend einen Hunnenritter getötet hat.


32



DrawObj

Bloedelin

Etzels Bruder lässt sich von Kriemhild kaufen und tötet die burgundischen Knappen. Er selbst stirbt dabei ebenfalls.


33


(Ortlieb )

Etzel

Hagen tötet Etzels Sohn und fängt damit die Saalschlacht an.


35


Rüdiger, DietrichDrawObjDrawObj

Iring

Iring von Dänemark kann als erster Hagen im Kampf verwunden, fällt dann aber durch ihn.


37

Gernot

DrawObj

Rüdiger

Etzel und Kriemhild bitten Rüdiger, die Burgunden zu bekämpfen. Sein Eid an Kriemhild lässt ihm keine Wahl.


38

Volker , Dankwart , Giselher

DietrichDrawObj

Hildebrand, Wolfhart

Dietrichs Leute sollen sich nach Rüdiger erkundigen, lassen sich aber gegen ihren Befehl in den Kampf verwickeln und sterben.


39

Gunther , Hagen


Dietrich, Kriemhild

Dietrich nimmt Hagen und Gunther gefangen, Kriemhild veranlasst deren Tod, woraufhin Hildebrand sie in Stücke haut.


 

3 Fazit

Wie also konnte und musste es zu dieser Katastrophe kommen? Erstens wurde natürlich mit dem Brautwerbungsbetrug an Brünhild ein schmutziges Geheimnis geschaffen, das um keinen Preis öffentlich werden durfte. Ganz im Einklang mit der Figur des schwachen Königs entwickelt der Dichter hier eine Handlung, die deutlich zeigt, wie Gunther nicht einmal in der Lage ist, abzuschätzen, was er bewältigen kann und was nicht. So versteigt er sich in Unternehmungen, die eindeutig mehrere Nummern zu groß für ihn sind: Ohne Siegfried wäre keiner seiner Männer lebend von der Brautwerbung zurück gekommen - und dabei war die Unterstützung des Xanteners keinesfalls von Anfang an so vorgesehen, wie sie durchgeführt wurde: die Möglichkeit des perfekten Betruges mit der Tarnkappe ergab sich aus Gunthers Sicht eher zufällig (quasi als Abfallprodukt von Siegfrieds Jugendabenteuern). Mit seiner Unfähigkeit, die Gefahr realistisch einzuschätzen, bringt Gunther hier nicht nur sich selbst und seine Vasallen, sondern auch sein ganzes Königreich in Gefahr. Diese Art von leichtfertigem (um nicht zu sagen: grob fahrlässigem) Verhalten ist eindeutig ein Kennzeichen eines schlechten Königs. Um die daraus drohenden Konsequenzen abzuwenden, wird mit unlauteren Mitteln nachgeholfen - Siegfried sei Dank. Doch die Folgen, die sich wiederum aus dieser Flickschusterei ergeben, sind genauso katastrophal (wenn auch weniger unmittelbar) für sein Reich: Die Öffentlichmachung des Brautnachtbetrugs droht, die Autorität der Krone massiv zu untergraben, aber es gibt keine vernünftige Alternative mehr, um das Bröckeln der tönernen Füße (denn mit Brünhild auf seinem Thron lebt Gunther nur von geliehener Macht) zu verbergen. Also muss ein Exempel statuiert werden - in der Hoffnung, dass irgendwann Gras über die Sache wächst. An diesem Punkt ist das Knäuel schon so hoffnungslos verstrickt, dass keine Möglichkeit mehr besteht, aus dem Morast von Vortäuschungen und Verheimlichungen noch mit Anstand zu entkommen. Gunther muss einsehen, dass er sich mit Brünhild schlichtweg übernommen hat: So wie er nicht in der Lage war, sie aus eigener Kraft im Zweikampf zu bezwingen, genauso machtlos steht er dem Streit der Königinnen gegenüber. Ähnlich Shakespeares Macbeth erinnert er an den "Zwerg, den seine Macht wie das Gewand eines Riesen umschlottert".

Zweitens kommt aber in dieser Krisensituation noch hinzu, dass sich hier bereits mehrfach das heroische und das höfische Wertesystem vermischt haben (siehe z.B. Kap. 2.1.1 und 2.1.2). Dabei war es bisher glücklicherweise noch nicht zu Unverträglichkeiten gekommen, aber aufgrund der Illegitimität der Situation stehen sich plötzlich konkurrierende Ethikvorstellungen gegenüber19: So wäre es einerseits extrem unhöfisch gewesen, die Einladung ihrer Schwester an den hunnischen Hof auszuschlagen, aber andererseits ist es das Prinzip der Blutrache, das Kriemhilds Zorn über Jahrzehnte lebendig hält. Natürlich gibt es auch Situationen, in denen beide Kodices das gleiche Verhalten diktieren: So wäre es in jedem Fall für Gunther undenkbar gewesen, Hagen an Kriemhild auszuliefern.

Und drittens ist an Rüdigers Beispiel nachzuvollziehen, wie dieser, obwohl er (der als perfektester Vertreter höfischer Kultur weit von heroischen Werten entfernt ist) nur einer Ethik verpflichtet ist, doch in den unauflöslichen Verwicklungen aufgerieben wird, weil er als Lehnsmann und Einlöser seines Eides nur zum Werkzeug für Kriemhilds Rache wird. Sein "Fehler" ist es lediglich, seine unerschütterliche Treue an die vâlandinne zu vergeben, die es mit der höfischen Korrektheit nicht ganz so ernst nimmt wie er. Seine Gefolgschaft wird ihm nur durch die untriuwe seiner Herrin zum Verhängnis - ein Risiko, das allerdings für jeden Gefolgsmann besteht.

So kommt es zum Untergang der Burgunden hauptsächlich deshalb, weil die Agierenden sich zu oft aus den beiden zu Verfügung stehenden Wertesystemen das herausnehmen, was ihnen gerade am besten passt (teilweise wird ja sogar mit klarem Betrug gearbeitet, der sich überhaupt nicht mehr rechtfertigen lässt). Dass es dabei über kurz oder lang zu Schwierigkeiten kommen muss, versteht sich von selbst. So lässt sich das Nibelungenlied durchaus auch als Kritik des Dichters an zeitgenössischen Herrschern verstehen20, denn es scheint schwer vorstellbar, dass es Könige gegeben haben soll, die den unglaublich strengen Vorstellungen eines höfischen Vorbilds tatsächlich entsprechen konnten. Besonders für das Hochmittelalter wird hier nachvollziehbar, wie das höfische Wertesystem einerseits noch zu jung und andererseits auch zu streng war, um im Alltag bestehen zu können21. In dieser Hinsicht weist die Dichtung einige fast schon als realistisch zu bezeichnende Züge auf, indem sie das Idealbild der schönen heilen höfischen Welt ankratzt. Möglicherweise ist es auch gerade diese Eigenheit des Werkes, die das zeitgenössische Publikum in den Bann gezogen hat, denn verglichen mit dem Rolandslied ist das Nibelungenlied zwar schwerer verdaulich, behält aber seine Faszination wesentlich länger, weil es sich nicht in eine einfache Moral auflösen lässt, sondern Anlass zum Nachgrübeln gibt.

 

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4 Literatur

 

Brackert, Helmut (Hrsg.) (1970): "Das Nibelungenlied - Mittelhochdeutscher Text und Übertragung"; Fischer Verlag, Frankfurt am Main.

Gentry, Francis G. (1975): "Triuwe and Vriunt in the Nibelungenlied"; Rodopi Verlag, Amsterdam (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur, Band 19).

Heinzle, Joachim (1987): "Das Nibelungenlied - Eine Einführung"; Artemis Verlag, München/Zürich.

Hoffmann, Werner (1987): "Das Nibelungenlied"; Diesterweg Verlag, Frankfurt am Main (Grundlagen und Gedanken zum Verständnis erzählender Literatur).

 

1 vgl. z.B. Gentry (1975), s.11: "It is a curious hybrid of ancient and modern elements, a mixture which is not always totally successful."

2 Einige dieser älteren Siegfried-Erzählungen des germanischen "heroic age" sind z.B. in der Lieder-Edda festgehalten: vgl. Hoffmann (1987), s.8.

3 Wobei vor allem an Siegfried der veraltete Charakter des Wortes "Recke" deutlich wird: im Hochmittelalter wurde dieser Begriff durch "Ritter" ersetzt. Vgl. dazu Brackert (1970), s.274.

4 vgl. Hoffmann (1987), s.75: "ein schwacher, unentschlossen schwankender Herrscher".

5 So behauptet Kriemhild fälschlicherweise, Siegfried (und nicht Gunther) habe als erster mit Brünhild geschlafen. Vgl.auch Hoffmann (1987), s.52.

6 Da es für die Situation keinerlei angemessene Lösung gibt, ist die Ermordung Siegfrieds hauptsächlich als Abreagieren der ohnmächtigen Wut über dessen Mitschuld am Eklat zu verstehen; m.a.W.: als Rache.

7 vgl. die Bahrprobe, in der Hagen sich nicht die Mühe macht, Kriemhilds Vorwürfe zu leugnen.

8 vgl. Gentry (1975), s.61: "If a woman has no husband, her only refuge is her family."

9 Deutlich zu erkennen, als Rüdiger bewaffnet den Saal betritt, und die Burgunden sich freuen, weil sie denken, sie bekämen Unterstützung.

10 Hoffmann (1987), s.81.

11 Hoffmann (1987), s.58.

12 Heinzle (1987), s.39.

13 Obwohl es später Dietrich von Bern ist, der den Konflikt beendet, tut er es doch trotzdem nicht, weil Kriemhild Befehlsgewalt über ihn hätte, sonder aus eigenen Interessen (siehe auch Kap. 2.1.12.3). Rüdiger ist Kriemhilds letzte Waffe.

14 vgl. Gentry (1975), s.22+41: "formal" vs. "personal".

15 Gentry (1975), s.23: "...if there arose a conflict which would pit a vassal against his own kin, the choice was clear. He had to decide in favor of his lord."

ebd., s.19: "A vassal must always put his lord's welfare above his own. He must never abandon a battle, even if it is hopelessly lost."

16 vgl. Gentry (1975), s.36, über Rüdiger: "No other figure in the 'Nibelungenlied' is so universally loved and respected."

17 Hoffmann (1987), s.84.

18 vgl. Hoffmann (1987), s.85.

19 vgl. Gentry (1975), s.35: "In an instance such as this one, the two systems are not to be reconciled, although they could coexist peacefully enough under other circumstances."

20 vgl. Hoffmann (1987), s.99: "Der heroischen Egozentrik gegenüber bleibt das Höfische mehr oder weniger Firnis."

21 ebd.: "Wenn vitale Interessen auf dem Spiele stehen, dann wird sehr schnell augenfällig, dass die Höfisierung, und das heißt die Kultivierung des Lebensstils, die Menschen nicht in der Tiefe geprägt hat - und das in der Sicht des Dichters offensichtlich auch nicht vermag."

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