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Orcs

Wurden die orcs [Orks] anfangs (im Hobbit) noch als goblins bezeichnet, schuf Tolkien später einen anderen Namen für diese Rasse, um deren Unterschied von "Kobolden" (goblins im Sinne von Volksmärchen oder nursery stories1) deutlich zu machen. Zwar ist der Begriff "orc" - das altenglische Wort für "Dämon"2 - von Tolkien nicht frei erfunden worden3, aber er hat ihn erstmals für jene goblin-ähnlichen Wesen eingesetzt, um ein bestimmtes Volk von Bösewichten zu beschreiben, das nicht mit den stereotypen Vorstellungen von Märchen-Kobolden in Verbindung gebracht werden sollte. Da er aber den Begriff "goblin" auch im LotR teilweise noch gebrauchte und vereinzelt suggerierte, diese seien eine Unterart der Orks, herrschte viel Verwirrung über das Verhältnis von goblins zu orcs4. Tatsache ist, dass es sich hier lediglich um inkonsistente Benennungen handelt - Tolkien benutzt beide Begriffe synonym5. Wie auch schon im Falle der Elves konnte hier in der späteren deutschen Übersetzung ein einheitliche Terminologie eingeführt werden: die konsistente Übertragung beider Begriffe mit "Ork" hat dabei für Klarheit gesorgt.

Was dagegen bis heute nicht hinlänglich geklärt ist, betrifft das genaue Wesen und Aussehen von Tolkiens Orks. Dabei scheint mir hier eine Vermischung von zwei traditionellen Motiven vorzuliegen: Das wilde Tier (beast) einerseits und der bösartige Kobold (goblin)6 andererseits. Gemäß dem Ersteren besitzen Tolkiens Orks große physische Kräfte und sind ganz und gar körperliche Wesen7. Andererseits verfügen sie über eine rudimentäre Kultur und Sprache und können mit Werkzeugen, d.h. Waffen umgehen. Vor allem aber treibt sie die Bösartigkeit, die kein wildes Tier kennt - hier kommt der Aspekt von Kobolden (mischief) zum Tragen.

Konsequenterweise verweist Gasque auf eine entfernte Ähnlichkeit der orcs mit dem mittel­alterlichen Konzept des "Wild Man", welches ein menschliches Wesen als Tier darstellt8. Er bietet weiterhin eine alternative Etymologie des Namens orc an, nämlich:

"...from the Italic god of death and the underworld, Orcus, from whom the French got the word ogre;9 and the word orcus occurs at least once in the Middle Ages referring specifically to the wild man."10

Dass es sich hier aber nicht direkt um menschliche Wesen handelt, spürt jeder Leser auch trotz der Knappheit der Beschreibungen im LotR. Interessant ist daher Tolkiens Darstellung, die er erst in einem seiner Briefe gibt. Dort beschreibt er Orks als:

"...squat, broad, flat-nosed, sallow-skinned, with wide mouths and slant eyes: in fact degraded and repulsive versions of the (to Europeans) least lovely Mongol-types."11

Nur wenige bildliche Darstellungen von orcs sind aber so moderat wie Abbildung 34. In fast allen grafischen Umsetzungen nehmen die Orks deutlich tierische Züge an: Primäres Merkmal sind dabei lange Reißzähne (Abbildung 35 und Abbildung 36, vgl. auch Bakshis Verfilmung) und deutlich dunkle, lederige Haut (Abbildung 37). Meist findet man auch affenähnliche Schädelformen (siehe Abbildung 38) oder anderweitig deformierte Gesichter (siehe Abbildung 39) sowie fellartige Körper­behaarung, teils sogar Schweins­rüssel (siehe Abbildung 40) und Hauer im Gesicht12. Ohne Zweifel hat Tolkien hier mit seiner unbildlichen Beschreibungsweise Tür und Tor geöffnet für Spekulationen.

Denn sein Hinweis auf die Herkunft der Orks als "counterfeit of Elves" hilft wenig, ein Bild von ihnen zu entwickeln. Immerhin herrscht nach Tolkien aber Einvernehmen darüber, dass sie von Morgoth aus gefangenen Elves "ge­züchtet" wurden13, weil er selbst nichts Lebendes mehr erschaffen konnte. So sagt Frodo in Mordor zu Sam:

"The Shadow that bred them [orcs] can only mock, it cannot not make: not real new things of its own. I don't think it gave life to the orcs, it only ruined them and twisted them;..."14

Natürlich genießt Tolkien es auch hier, darauf zu verweisen, dass diese Frage nie endgültig geklärt werden kann. Trotzdem gibt es aber andere Hin­weise, die die Unfähigkeit abtrünniger Ainur, etwas eigenes zu schaffen, untermauern: So büßen sowohl Morgoth als auch Sauron mit ihrem Abfall vom Guten beispielsweise die freie Wahl ihres Erscheinungsbildes ein:

"For he [Morgoth] [...] could change his form, or walk unclad, [...] though that power he was soon to lose for ever."15 [...] "...and he put on again the form that he had worn as the tyrant of Utumno: a dark Lord, tall and terrible. In that form he remained ever after."16

"...and though he [Sauron] was robbed now of that shape [...] so that he could never again appear fair to the eyes of Men, yet his spirit [...] came back to Middle-earth and Mordor that was his home. There he [...] wrought himself a new guise, an image of malice and hatred made visible;..."17

Damit verlieren sie eindeutig wenn schon nicht eine schöpferische, dann doch immerhin eine kreative Fähigkeit und sind trotz ihrer ungeheuren Macht nicht mehr in der Lage, den Körper zu wechseln und ihr Erscheinungsbild zu ändern. Vor diesem Hintergrund scheint es in der Tat fragwürdig, ob sie jemals Lebendes aus Unbelebtem erschaffen konnten.

Aus dieser Überlegung ergibt sich das Problem der Vermehrung von Orks und die Notwendigkeit geschlechtlicher Fort­pflanzung, auf die Tolkien nie ernsthaft eingeht18. Seine Aussage "the Orcs had life and multiplied after the manner of the Children of Ilúvatar"19 kann vor dem Hintergrund seiner vollständig asexuellen Beschreibung der Orks in keiner Weise überzeugen. MERP dagegen beschreibt folgerichtig weibliche Orks20, an die Tolkien selbst vermutlich keinen Gedanken verschwendet hat (Darüber hinaus wird die bei Tolkien nur kurz angedeutete Entstehungs­geschichte der Orks aus gefangenen Elves in Angband genauer beleuchtet und ausgeführt21). Diese Modi­fikation ergibt sich aber lediglich aus der Notwendigkeit, den Orks eine plausible Existenz im Spiel zu ermöglichen, nicht aus Tolkiens Schriften selbst.

An diesem Beispiel wird deutlich, wie Sexualität und Familienbande in Tolkiens Werk das Privileg "guter" Wesen zu sein scheinen (siehe auch: "Ents"). In der Tat leuchtet es ein, dass man sich die streitsüchtigen, gewalttätigen orcs nur schwer als Familienväter vorstellen kann. Obwohl Tolkien auch einigermaßen unabhängige Ork-Populationen beschreibt (z.B. die Goblin town in den Misty Mountains nördlich von Rivendell22), so hat man dabei doch immer den Eindruck, dort würden nur männliche orcs hausen - und Tolkien selbst behauptet nie das Gegenteil. Dabei erscheint dies auch nicht allzu unplausibel, da immer wieder auf das "breeding" hingewiesen wird, mit dessen Hilfe die orcs von Morgoth bzw. Sauron vermehrt werden - was allerdings eigenständige Organisation und Ansiedlung noch nicht erklärt, besonders wenn man die langen Zeiten von Saurons Inaktivität bedenkt.

Dabei ist "to breed" zwar durchaus angemessen mit "züchten" übersetzbar, aber nicht so sehr im Sinne von "formen, verändern" (wie z.B. in der Hundezucht), sondern vielmehr im Sinne von "vervielfältigen, kultivieren" (wie in einer Petrischale im Labor). Zwar hat Tolkien selbst das Klonen von höheren Wirbeltieren nicht mehr erlebt, aber das Kultivieren von Bakterien- und Pilzkulturen in künstlicher Umgebung dürfte ihm vertraut gewesen sein. Dabei würde einerseits eine unfruchtbare Rasse von orcs auch das Konzept der Sterilität des Bösen23 untermauern: die Unfähigkeit, eigenes Leben zu zeugen als Preis für die Entsagung des Guten. Andererseits stellt sich dann aus dieser Sichtweise aber natürlich die Frage, warum die orcs immer noch nicht ausgestorben sind. Wenn sie selbst steril wären, müsste "der Schatten, der sie schuf" die Fähigkeit besitzen, sie immer wieder neu zu erschaffen - was er aber mutmaßlich nicht kann, weil er selbst unfruchtbar ist. So entsteht der Eindruck einer anscheinend rein männlichen Rasse, die sich wundersam und rasend vervielfältigt, ohne dafür geschlechtliche Vermehrung, soziale Verbände oder auch nur eine funktionierende Infrastruktur zu benötigen. Schulen für kleine Orks erscheinen in Mittelerde hauptsächlich deshalb so befremdlich, weil von Ork-Kindern selbst noch niemand gehört hat.

Bei solchen detaillierten Betrachtungen zeigt sich schnell, welche Punkte für Tolkien geringere Wichtigkeit besaßen: erstens untermauert die offensichtliche (wenn auch nur teilweise) Unfruchtbarkeit des Gegners seine feindselige Einstellung gegenüber dem Leben im Allgemeinen, und zweitens bleibt der Grund für den unerschöpflichen "Vorrat" an orcs, den Sauron trotzdem in die Schlacht wirft, genauso mysteriös wie alle Geschöpfe des Dunklen: Es ist offensichtlich, dass ein schwer einschätzbarer Feind sehr viel leichter Angst und Schrecken verbreiten kann als ein Gegner, den man genau kennt.

Somit wird hier eine Lücke in Tolkiens Sekundärwelt durch die Umsetzung zum Rollenspiel plausibel geschlossen: Im Gegensatz zum Buch kann sich das Regelwerk keine allzu großen blinden Flecke in der Beschreibung von im Spiel auftauchenden Kreaturen erlauben, und so wurden Tolkiens orcs kurzerhand mit weiblichen counterparts versorgt24.

Insgesamt muss man zu den Orks sagen, dass sie zum Standardmonster schlechthin avanciert sind: Abwandlungen dieser grausamen und streitsüchtigen, gleichzeitig aber meist feigen Kreaturen finden sich heute überall in der fantasy-Welt. Sie gehören zur Grundausstattung in den meisten mittelalterlich-magischen Settings. Dabei haben sich vor allem rote Augen, grüne Haut und überdimensionale Hauer als sehr beliebt erwiesen (siehe Abbildung 41) Besonders in Spielen, von denen D&D (bzw. AD&D), DSA, Magic: The Gathering (siehe Abbildung 42), Ultima und The Bard's Tale nur die wichtigsten sind, geben sie die prototypischen Gegner, das Fußvolk des Bösen ab. Dabei findet sich sogar Tolkiens Doppeldeutigkeit von goblins und orcs in vielen heutigen Spielen wieder25, wo beide ebenfalls zur gleichen "Familie" gehören, aber goblins meist kleiner sind. Einer der Hauptgründe für diese Popularität dürfte wohl in ihrer halbtierischen Natur liegen: es scheint ethisch weit weniger bedenklich, einen Ork zu töten als einen Menschen, wie böse dieser auch sein mag.

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1George MacDonald hatte das Bild der goblins stark als Figuren der children's fantasy geprägt. Clute (1997), p.316.

2Letters, #144, pp.177-178.

3So taucht der Wortstamm heute noch in Orca (Killerwal) auf. Vgl. dazu Collins Dictionary (Hanks 1981), p.1034: "orc [...] 2. a mythical monster. [C16: via Latin orca, perhaps from Greek orux whale]"

4vgl. dazu "Tolkien FAQ: F) What was the relationship between Orcs and Goblins?" http://godzilla.eecs.berkeley.edu/rolozo/ (20. Juni 1999).

5Letters, #151, p.185.

6Letters, #144, p.178: "...they [orcs] [...] owe, I suppose, a good deal to the goblin tradition".

7Letters, #153, p.190: "...the Orcs [...] are fundamentally a race of 'rational incarnate' creatures..." (meine Unterstreichung).

8Gasque, Thomas J.: "Tolkien: The Monster and the Critters", in: Isaacs (1968), p.161.

9Diese Ansicht wird auch von Helms vertreten: Helms (1975), p.76.

10Gasque, Thomas J.: "Tolkien: The Monster and the Critters", in: Isaacs (1968), p.162.

11Letters, #210, p.274.

12Diese Darstellung mit schweineähnlichen Gesichtern wurde z.B. auch in Star Wars 3 (Return of the Jedi) für die Wachen in Jabbas Palast aufgegriffen. Vgl. Lucas, George (Story) und Marquand, Richard (Regie): "The Return of the Jedi" [ohne Ort]: Lucasfilm / 20th Century Fox 1983.

13Silmarillion, p.58.

Letters, #212, p.287: "...Elves may turn into Orcs, and [...] this required the special perversive malice of Morgoth..."

14LotR III, p.227.

15Silmarillion, p.85.

16Silmarillion, p.86.

17Silmarillion, pp.337-338.

18Obwohl Tolkien sich im LotR generell extrem wenig mit Frauen oder Sexualität befasst (vgl. Keenan, Hugh T.: "The Appeal of the [LotR]: A Struggle for Life", in: Isaacs (1968), p.71), ist doch die (fast) vollständige Verschweigung dieses Themas bei den orcs auf jeden Fall als Aussage zu werten.

19Silmarillion, p.58.

20Charlton (1995), pp.137.

21Fenlon (1989), p.84.

22vgl. Fonstad (1985), p.80.

23vgl. dazu Gasque, Thomas J.: "Tolkien: The Monster and the Critters", in: Isaac (1968), p.159: "...the bad are associated with barrenness and are hostile to growing things."

24Fenlon (1989), p.88.

25z.B. AD&D (Beach 1995: "Goblin"), DSA (Johann 1996, p.20+32) und Magic: the Gathering (Garfield 1993-1999), aber auch The Bard's Tale (Cranford 1985-88) und andere.

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